"Ich gehöre nicht zu denen, die sagen: ‚Ich bin zuallererst Bochumer und danach Ruhri‘"
Stefan Berger ist in Langenfeld im Rheinland aufgewachsen. Nach seinem eigenen Studium in Köln und Oxford lehrte er als Geschichtsprofessor schon in Plymouth, Wales, Glamorgan, Manchester und Paris, bevor er 2011 nach Bochum kam. Hier leitet er das Institut für Soziale Bewegungen der RUB und ist Vorsitzender der “Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets”.
Hallo, Herr Berger. Zum Einstieg vielleicht eine etwas lockerere Frage: Wenn Sie an Bochum denken, was kommt Ihnen dann als Erstes in den Sinn?
Wenn ich an Bochum denke, kommt mir als Erstes der Stahl in den Sinn, Bochum als Stahlstadt. Dann aber auch sehr schnell Bochum als die Stadt, die Herbert Grönemeyer besingt und vielleicht dann noch der VfL Bochum.
Sie haben ja im Laufe Ihres Lebens schon viele verschiedene Städte kennengelernt. Sie kommen ursprünglich aus Langenfeld im Rheinland, haben nach Ihrem eigenen Studium in Köln und Oxford schon in Plymouth, Cardiff, Glamorgan, Manchester und Paris gelehrt, bevor Sie dann 2011 nach Bochum gekommen sind. Wie würden Sie Ihre Beziehung zu diesen Städten beschreiben? Fühlen Sie überhaupt eine Verbundenheit zu bestimmten Orten oder ist das bei so vielen Ortswechseln gar nicht möglich?
Ich glaube, ich habe schon eine Beziehung zu diesen Orten. Ich erinnere mich auch immer gerne an verschiedene Aspekte, die diese Orte haben. An verschiedene Erfahrungen, die ich an diesen Orten gemacht habe. Von daher glaube ich, dass man schon zu den physischen Orten, an denen man sich aufhält, immer eine Art Beziehung entwickelt.
Und wenn es jetzt um so etwas wie Nähegefühl oder Verbundenheit geht, wie geht es Ihnen da?
Genau, würde ich auch so sehen. Ich habe nach wie vor ein sehr starkes Nähegefühl, eine sehr positive Erinnerung und sozusagen auch ein emotional gutes Gefühl, wenn ich etwa an Cardiff denke, wo ich insgesamt 15 Jahre zuhause war. Also, von daher glaube ich schon, dass man durchaus von einem Nähegefühl, das sich mit einem bestimmten Ort verbindet, sprechen kann.
Zur Ruhr-Universität: Das ist ja die Universität, mit der Sie jetzt schon seit über zehn Jahren zusammenarbeiten. Was hat Sie damals bewegt, nach Bochum an die RUB zu kommen?
Ich kannte das Institut für soziale Bewegungen hier schon unter meinem Vorgänger und von daher wusste ich, dass es eine zentrale wissenschaftliche Einrichtung ist, die mir sowohl im Regionalen, Nationalen als auch im Transnationalen viele Möglichkeiten wissenschaftlichen Arbeitens geben würde. Das Forschungsinstitut der Ruhr-Universität in Verbindung mit der Stiftung „Geschichte des Ruhrgebiets“ ist auch eine sehr einmalige Konstruktion einer Wissenschaftsinstitution. Von daher war es ein attraktives Angebot, was mich dann 2011 von Manchester hier in das Ruhrgebiet geführt hat.
Wie hat sich Ihre Beziehung zur Stadt Bochum dann entwickelt, nachdem Sie hierhergekommen sind?
Ich würde sagen, dass ich auch sehr gerne im Ruhrgebiet lebe. Ich nehme das Ruhrgebiet sehr stark als eine zusammengehörige urbane Region wahr. Von daher würde ich sagen, dass ich in den zehn Jahren, in denen ich jetzt hier im Ruhrgebiet lebe, schon ein Nähegefühl zur urbanen Ruhrregion entwickelt habe und dazu gehört natürlich auch Bochum. Allerdings würde ich mich nicht zu denen zählen, die sagen: ‚Ich bin zuallererst Bochumer und danach Ruhri‘. Vielleicht liegt das auch daran, dass ich, als ich nach Bochum gekommen bin, nach Wattenscheid gezogen bin und das Verhältnis von Wattenscheid und Bochum in gewisser Hinsicht auch ein spannungsgeladenes ist. Ich lebe sehr gerne in Bochum, aber ich glaube, ich habe auch ein starkes Gefühl für die gesamte Ruhrregion entwickelt.
Konnte denn Bochum oder das Ruhrgebiet als Ganzes für Sie in dieser Zeit auch zur Heimat werden oder wie würden Sie Heimat allgemein für sich definieren?
Ich gehöre zu denen, die immer große Probleme mit dem Begriff der Heimat haben, weil der Heimatbegriff in Deutschland unter den Nationalsozialisten sehr stark zu propagandistischen Zwecken ausgenutzt wurde und auch schon vor den Nationalsozialisten ein Begriff war, der häufig von der politischen Rechten instrumentalisiert wurde. Begriffe haben ja immer eine Geschichte und ich glaube, dass es schwierig ist, diese Geschichte zu ignorieren. Daher bin ich jemand, der nicht so gerne mit dem Heimatbegriff operiert. Ich versuche dann, andere Begriffe zu finden, die auch dieses Nähegefühl zu einem physischen Ort ausdrücken.
Wenn wir dann anstelle von Heimat über Zuhause reden. Würden Sie sagen, dass Sie im Ruhrgebiet Zuhause sind?
Ja, ich würde sagen, dass ich mich im Ruhrgebiet Zuhause fühle, genau wie ich mich auch in Manchester oder in Cardiff zuhause gefühlt habe. Das Zuhausefühlen hat zwar immer auch etwas mit dem physischen Ort zu tun. Aber für mich ist letztendlich viel eher die Beziehung zu den Menschen entscheidend, die sich um einen herum gruppieren. Das Gefühl, Zuhause zu sein, hat für mich eigentlich stärker mit Menschen zu tun, mit meiner eigenen Familie, aber auch mit Freunden, die ich an den jeweiligen Orten habe und durch die man in der Regel ja auch die Orte erst wirklich erlebt. Daher ist das Gefühl, Zuhause zu sein, für mich stärker an Menschen als an Orte gebunden.
Dankeschön. Wir würden jetzt eher zum historischen Aspekt übergehen. Einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist der sozial- und kulturgeschichtliche Vergleich des Ruhrgebiets mit anderen Ballungsräumen. Auch wenn das Thema sicherlich sehr komplex ist: Können Sie uns vielleicht einen ganz kurzen Überblick über die Besonderheiten des Ruhrgebiets im Vergleich zu anderen Städten oder Ballungsräumen geben?
Da gibt es wirklich sehr viel zu erzählen, sodass ich überlegen muss, dass ich jetzt hier nicht gleich in einen 45-minütigen Vorlesungsmodus verfalle. In der Tat kann man sagen, dass es im 19. und 20. Jahrhundert eine Reihe von schwerindustriellen Kernregionen in der Welt gegeben hat. Das waren Regionen, in denen vor allem die Kohle- und Stahlindustrie zuhause war und eine dieser industriellen Kernregionen war ohne Frage auch das Ruhrgebiet. Es entwickelt sich rapide in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, seit es möglich geworden ist, technisch die Mergeldecke zu durchbrechen und damit auch den Steinkohlebergbau in die Tiefe zu führen. Mit der Steinkohle kommt dann die Eisen- und Stahlindustrie und so entwickelt sich das Ruhrgebiet zum wichtigsten schwerindustriellen Ballungsraum in Europa vor dem Ersten Weltkrieg.
Es ist aber durchaus vergleichbar mit anderen schwerindustriellen Räumen, einerseits im Hinblick auf seine Bedeutung für die Industrialisierung, andererseits auch im Hinblick auf die entstehenden Sozialstrukturen. Es gibt einen merklichen Überhang an Proletarität, den man im Ruhrgebiet und in anderen schwerindustriellen Ballungsregionen findet. Das hat auch Auswirkungen auf die Entwicklung der Politik, etwa durch die Herausbildung von starken Gewerkschaften oder Arbeiterbewegungen. Es existieren also viele Gemeinsamkeiten zwischen diesen Regionen in der Industrialisierung und auch heute – oder auch schon seit fünfzig Jahren – in der Deindustrialisierung. Die meisten dieser schwerindustriellen Kernregionen im globalen Norden haben sich seit den 1970er Jahren zunehmend deindustrialisiert, sodass man da von der Entwicklung postindustrieller Regionen sprechen kann. Das gilt für manche mehr und für manche weniger, das Ruhrgebiet ist eigentlich keine klassische postindustrielle Region. Wir haben in Duisburg immer noch das größte Stahlwerk Europas und wir haben im Vergleich zu anderen Industrieregionen des globalen Nordens auch noch einen relativ hohen Anteil des produzierenden Gewerbes, also der Industrie.
Wir finden im Ruhrgebiet eigentlich auch nicht diese starken sozialen Verwerfungen, wie wir sie in anderen postindustriellen Räumen finden, klassischerweise im Rust Belt der USA, dem mittleren Westen – in Städten wie Pittsburgh oder Detroit – oder auch in den Industrieregionen in Nordengland oder in Südwales. Dort hat die Deindustrialisierung mehr verbrannte Erde hinterlassen, während man hier im Ruhrgebiet doch einen Strukturwandel durchgemacht hat, der dazu geführt hat, dass der soziale Wandel in der Region in mancher Hinsicht wesentlich abgefedert wurde.
Wenn wir uns jetzt mit diesem Wandel befassen: Das Ruhrgebiet heutzutage ist ja ein anderes als das vor fünfzig oder hundert Jahren. Inwieweit, würden Sie sagen, prägen ehemalige Industriezweige wie der Kohleabbau oder auch die Stahlproduktion das Ruhrgebiet heute noch?
Ich glaube, dass die schwerindustrielle Vergangenheit im Ruhrgebiet nach wie vor so präsent ist, dass wir hier heute eine Industriekulturlandschaft haben, die weltweit ihresgleichen sucht. Dadurch haben wir im Prinzip eine spezifische Form der Erinnerung an die schwerindustrielle Vergangenheit, die in vielerlei Hinsicht auch die Gegenwarts- und die Zukunftsvorstellungen der Region prägen. Von daher sind bestimmte Kernwerte, die sich mit der Industrieregion Ruhrgebiet verbinden – nehmen wir nur einmal den Kernwert der Solidarität –, auch heute noch im Ruhrgebiet stark ausgeprägt und prägen, wenn man so will, das Selbstverständnis der Region.
Die ehemaligen Kernindustrien – also die Kohle und Stahlindustrie – sind heute entweder verschwunden oder im Verschwinden begriffen. Ein bisschen Stahlindustrie haben wir zwar noch, aber ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Stahlindustrie ganz verschwindet. Doch trotz dieses Weggangs haben wir doch über die Industriekultur und über eine Erinnerungslandschaft, die sich mit dieser Industriekultur verbindet, nach wie vor eine starke Vergegenwärtigung, was diese Industriegesellschaft bedeutete, was sie hervorgebracht hat und wofür sie stand. Von daher prägen die klassischen Industrien eigentlich bis heute die Mentalität der Region sehr stark.
Heutzutage sind ja die dominierenden Wirtschaftszweige eher im Dienstleistungs- oder auch im Bildungs- und Kulturbereich. Wie genau ist der Strukturwandel im Ruhrgebiet vonstatten gegangen? Und würden sie ihn als gelungen bezeichnen?
Ich glaube, wenn man den Strukturwandel im Ruhrgebiet mit dem Strukturwandel in anderen schwerindustriellen Regionen der Welt vergleicht, dann wird man zu dem Schluss kommen, dass man ihn durchaus als gelungen betrachten kann. Man kennt hier nicht diese starken sozialen Verwerfungen, über die ich im Hinblick auf die USA oder Großbritannien bereits gesprochen habe. Für die Menschen in der Region ist dieser Strukturwandel in der Regel besser gelungen als in anderen schwerindustriellen Regionen. Das heißt nicht, dass es durch den Strukturwandel keine Verlierer im Ruhrgebiet gegeben hat. Aber wir haben im Ruhrgebiet doch bestimmte Dinge geschaffen, sowohl im Hinblick auf neue Industrien, die in das Ruhrgebiet gekommen sind, als auch im Hinblick auf einen Wandel hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft und vor allem einen Wandel hin zu einer Wissensgesellschaft. Der größte Erfolg im Strukturwandel waren die Universitäten und die Hochschulen, die auch als Wirtschaftsfaktor ein enormer Gewinn für das Ruhrgebiet sind.
In vielerlei Hinsicht war dieser sehr stark kooperativ gemanagte Strukturwandel im Ruhrgebiet hier ein Erfolg. Es gibt auch diejenigen Stimmen, die sagen, dass genau dieses Management, dieser lange herausgezögerte, immer wieder gebremste Strukturwandel dazu geführt hat, dass sich die Region nicht radikal genug neu erfunden und neu gedacht hat. Aber ich glaube, der historische Vergleich ist hier vielleicht auch zugleich eine Warnung, dass dieses nichtgemanagte Denken nicht zu einem radikalen Neu- und Umdenken führt, sondern tatsächlich nur in eine Ausweg- und Zukunftslosigkeit, die wir durch diese stärker geplante Deindustrialisierung im Ruhrgebiet vermieden haben.
Vielleicht abschließend noch eine zukunftsgerichtete Frage: Was glauben Sie, wie sich das Ruhrgebiet in Zukunft weiter entwickeln wird. Was kommen da eventuell noch für Veränderungen auf uns zu?
Das ist sehr schwer zu sagen und Historiker sind in der Regel ganz schlechte Propheten. Von daher zögere ich ein wenig, allzu selbstbewusst über Zukunftsszenarios zu sprechen, zumal die Zukunft weit offen ist. Der Historiker Reinhart Koselleck hat schon vor vielen Jahren einmal ein Forschungsfeld der vergangenen Zukunftsforschung eröffnet. Dabei schauen Historiker sich sozusagen immer an, welche Vorstellungen von Zukunft es denn eigentlich in der Vergangenheit gab. Das Spannende daran ist, dass sich in der Regel entweder nur eine oder auch gar keine dieser Zukunftsvorstellungen durchgesetzt hat. Die Kontingenz der historischen Entwicklung wird durch diese historische Zukunftsforschung doch stark unterschrieben. Und das verunsichert auch diejenigen, die allzu selbstsicher heute schon zu wissen glauben, was morgen sein wird.
Ich glaube, dass es in der Tat schwierig ist, die Zukunft des Ruhrgebiets vorherzusehen. Wir sehen, dass sich mit der Deindustrialisierung gewisse Auflösungserscheinungen bemerkbar machen. Das Ruhrgebiet ist eigentlich eine Region, die erst mit der Industrialisierung entstanden ist, das heißt, es ist denkbar, dass sie mit der Deindustrialisierung auch wieder verschwinden wird. Im nördlichen Ruhrgebiet fühlt man sich vielleicht schon etwas stärker dem Münsterland verbunden, im östlichen Ruhrgebiet ist man vor allem Westfale, im westlichen Ruhrgebiet vielleicht eher Rheinländer, im Süden geht es in Richtung Bergisches Land. Es gibt alternative identitäre Verortungen, die vielleicht in dem Maße stärker werden, in dem das eigentliche Bindungsmittel des Ruhrgebiets – die Schwerindustrie – abnimmt.
Auf der anderen Seite habe ich bereits von diesem enormen industriekulturellen Potenzial der Region gesprochen, das vielleicht heute das größte Bindeglied der Region ist. Also die Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit, die immer noch präsent ist und die das Ruhrgebiet auch als Region zusammenhält. Ob sie das auch noch künftig vermag, wage ich wirklich nicht vorherzusagen.
Das wird sich ja dann mit der Zeit zeigen. Vielen Dank für das Interview!
Interview: Lena Bexte
Transkription: Florian Peter Hinkelmann
Foto: Stefan Berger