Philip Behrendt

"Wenn ich an das Ruhrgebiet denke, ist das ein ganz ähnliches Gefühl wie Fernweh, ein Gefühl von Nach-Hause-kommen."

Philip Behrendt ist in Schwelm in NRW groß geworden. Er studiert Germanistik und Komparatistik an der Ruhr-Universität. 2015 entwickelte er gemeinsam mit anderen Studierenden die “Literaturkarte.Ruhr” – eine Übersicht über literarische Werke des Ruhrgebiets – , die er bis heute ehrenamtlich betreut und weiterentwickelt.

Im Rahmen unseres Projektes “Experiment HEIMAT” beschäftigen wir uns hier vor Ort vor allem mit dem Heimatort Bochum. Wenn du an Bochum denkst, was kommt dir dann in den Sinn und was macht deiner Meinung nach Bochum als Stadt aus?

Das ist natürlich immer sehr von persönlichen Erfahrungen geprägt. Also ich habe bei Bochum immer als erstes an den VfL Bochum gedacht, aber das ist seit einer Weile anders. Jetzt denke ich eigentlich an das Bergbaumuseum, wenn ich an Bochum denke, einfach weil ich da arbeite und es seit drei Jahren Teil meines Lebens ist. Aber natürlich denke ich auch an die Ruhr-Uni. Also das sind so die ersten drei Sachen, die mir zu Bochum einfallen und danach kommt dann aber schon so etwas wie das Bermuda3eck und Fiege-Pils. Das sind ganz verschiedene Sachen, die mir bei Bochum direkt einfallen. Herbert Grönemeyer gehört natürlich auch dazu.

Ja, mit Sicherheit. Du kommst ja ursprünglich nicht aus Bochum, sondern bist in Schwelm aufgewachsen, bevor du für dein Studium erst nach Wuppertal und dann nach Bochum gekommen bist. Wie kam es denn, dass du dich genau für Bochum entschieden hast?

Die Entscheidung zum Studium in Bochum war einfach, das war die nächste Uni, die in der Nähe von Schwelm war,– weil ich dort eigentlich wohnen bleiben wollte. Außerdem haben die Germanistik und die Komparatistik der Ruhr-Uni ja auch einen ganz guten Ruf. Nach Bochum gezogen bin ich dann aber, weil ich wie gesagt vor drei Jahren angefangen habe, beim Bergbaumuseum zu arbeiten und die täglichen Fahrten mit Bus und Bahn einfach zu viel wurden. Und dann habe ich mich letztes Jahr entschieden nach Bochum –  Leute, die wohnen, wo ich wohne, würden sagen: nach Wattenscheid – zu ziehen.

Wie würdest du für dich den Begriff „Heimat“ definieren und inwieweit sind vielleicht auch Bochum und die Ruhr-Universität für dich dann zur Heimat geworden?

Da habe ich tatsächlich auch in letzter Zeit drüber nachgedacht. Ich glaube für mich ist „Heimat“ ein ganz enger Begriff. Ich würde das gar nicht groß von irgendwelchen Städten oder Regionen abhängig machen, sondern eigentlich ist mein Zuhause, also die Wohnung, in der ich wohne, meine Heimat. Da fühl ich mich Zuhause. Das habe ich jetzt gerade erst beim Umzug wieder gemerkt, wie schnell ich mich in der neuen Wohnung beheimatet gefühlt habe. Ich kann, wenn ich mit der Bahn in Wattenscheid ankomme, quasi in mein Fenster reingucken und habe dann immer schon so ein Heimatgefühl, nach dem Motto „Gleich bin ich Zuhause“.

Dass ich jetzt, wenn ich ans Ruhrgebiet denke, heimatliche Gefühle habe, das gibt es durchaus auch, aber das ist nicht so stark ausgeprägt wie bei meiner Wohnung. Wenn ich an das Ruhrgebiet denke, ist das ein ganz ähnliches Gefühl wie diese Art von Fernweh, ein Gefühl von Nach-Hause-kommen. Ich habe das beispielsweise, wenn ich ans Meer komme. Das ist irgendwie was ganz Ähnliches, das sind Bilder, die man im Kopf hat: Ruhrgebiet, Fördergerüste, am Strand am Meer stehen – das ist für mich irgendwie fast das gleiche.

Hat dir damals die Uni bei der Eingewöhnung in der für dich neuen Stadt geholfen?

Da ich erst nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie umgezogen bin, würde ich das nicht sagen. Seit ich hier wohne, gibt es ja keine Uni mehr, zumindest kein Campusleben und keine Präsenzlehre. Ich bin aber ja auch in der Zeit davor schon nahezu täglich an der Uni gewesen, daher kannte ich mich schon einigermaßen aus. Aber ich würde nicht unbedingt sagen, dass die Uni meine Heimat ist, auch wenn ich mich dort natürlich wohl fühle. Ich bin mit der aktuellen Situation eigentlich absolut im Reinen. Für mich ist es okay, nicht jeden Tag zum Campus zu fahren.

Du hast als Student ja auch an verschiedenen Projekten mitgewirkt, unter anderem an der Erstellung der Literaturkarte.Ruhr, und hast dich sogar über die Grenzen des Seminarzeitraums hinaus noch mit dem Projekt befasst. Was ist die Literaturkarte? Kannst du das vielleicht kurz erklären?

Die Literaturkarte Ruhr ist eine online-Landkarte, die im Wintersemester 15/16 im Rahmen eines Projektes an der RUB entstanden ist. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, die Literatur des Ruhrgebiets auf dieser Karte sichtbar zu machen. Wir haben Orte, an denen Autor:innen gewirkt haben, Schauplätze von Romanen und Lyrik und auch Literaturinstitutionen mit einem Punkt auf der Karte markiert. Diese Punkte kann man anklicken und bekommt weiterführende Informationen. Es war im Grunde der Wunsch, die mannigfaltige Literaturlandschaft des Ruhrgebiets irgendwie sichtbar zu machen.Natürlich ist das utopisch, weil es wahnsinnig viel gibt und unsere Ressourcen begrenzt sind.  Aber wir haben es versucht und haben einiges geschafft. 

Wie viele Einträge hat die Literaturkarte aktuell? 

Das sind 367.

Was würdest du sagen zeichnet die Literatur des Ruhrgebiets und insbesondere auch die Literatur Bochums aus?

Die Literatur des Ruhrgebiets ist wirklich lange von der Arbeitslandschaft geprägt gewesen. Eine Literatur der Arbeitswelt gibt es soweit ich weiß nicht überall und nicht in allen Wirtschaftszweigen, aber im Ruhrgebiet war die total verbreitet. So vor allem die Bergarbeiterliteratur. Viele Bergarbeiter haben sich hingesetzt und beispielsweise Gedichte oder Romane geschrieben. Viele Bergarbeiter haben auch Bilder gemalt, aber das ist nochmal ein anderes Thema. Und das macht die Literatur des Ruhrgebiets zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Da geht es eben oft um die Arbeitsbedingungen, die unter Tage herrschten. Das sind oft sehr realistische Darstellungen.

Und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Literatur des Ruhrgebiets dann stark vom Niedergang der Steinkohle geprägt, – was passiert mit meinem Viertel, wenn die Zeche weg ist? Das sind Autoren wie Hans Dieter Baroth – „Streuselkuchen in Ickern“ – oder auch die Romane von Ralf Rothmann, die sich sehr damit beschäftigen, was in der Stadt oder im Viertel passiert, wenn die Zeche nicht mehr da ist. Nach dem Ende des Steinkohleabbaus 2018 sind dann noch eine Reihe Romane erschienen, die versucht haben, den Blick in die Zukunft zu richten, aber auch immer viel das Geschehen der letzten 50 Jahre und den Weggang der Kohle reflektiert haben.

In Bezug auf Bochum ist es wahrscheinlich nochmal ein bisschen anders, weil hier ja 1973 schon die letzte Zeche zugemacht hat, das heißt hier wird schon seit 50 Jahren keine Kohle mehr abgebaut. Und dafür ist dann hier irgendwann die Ruhr-Uni installiert worden. Darum ist die Bochumer Literatur stärker von der Uni geprägt. Es gab häufiger Autor:innen, die an der Uni waren und dann darüber geschrieben haben oder nach der Uni eine Schriftstellerkarriere gestartet haben. Prominentes Beispiel: Man kann im Grunde nicht über Bochumer Literatur sprechen, ohne den Namen Frank Goosen zu erwähnen. Und ganz erfolgreich im Krimi-Segment ist Melanie Raabe, die zwar nicht über Bochum schreibt, aber in Bochum studiert hat.

Die Literatur des Ruhrgebiets war also lange Zeit vom Bergbau geprägt, der sich ja jetzt dem Ende zuneigt. In Bochum ist die Trennung vom Kohleabbau schon früher erfolgt, was – wie du sagst – auch Auswirkungen auf die Literatur hatte. Glaubst du, dass die Literatur im restlichen Ruhrgebiet sich ähnlich entwickeln wird wie in Bochum oder meinst du, dass die Literatur in den verschiedenen Städten des Ruhrgebiets sich weiter voneinander abgrenzen wird, jetzt da die Verbindung über die Kohle nicht mehr so gegeben ist?

Das kann natürlich gut sein. Das ist eine Frage, die sich insgesamt für die Region stellt. Bleibt das Ruhrgebiet als solches überhaupt bestehen, wenn es den Zusammenhalt über den Begriff der Kohle nicht mehr gibt? Es hat das Ruhrgebiet eben auch nicht immer gegeben, früher gehörte mal der eine Teil zu Westfalen, der andere zum Rheinland und erst ab den 20ern verbreitete sich der Begriff „Ruhrgebiet“. Und da stellt man sich natürlich auch die Frage, ob das Ruhrgebiet überhaupt bestehen bleibt, wenn es das alles nicht mehr gibt.

In der Literatur kann es sein, dass bei allen Städten was ähnliches bei rauskommt und andere Ruhrgebiets-Städte dem Weg Bochums folgen. Mit Sicherheit lässt sich das aber nicht vorhersagen. Ich glaub, dass sich die Literatur des Ruhrgebiets – wenn man es denn überhaupt noch so nennen will – wahrscheinlich viel mehr in Sparten auftrennen wird, wie es jetzt bei der Literatur in der Bunderepublik insgesamt passiert. Dass es dann diese Arbeiterliteratur oder besser Literatur der Arbeitswelt, nicht mehr als primäre Literatur des Ruhrgebiets geben wird. Und dafür kommen dann halt andere Sachen, wie ich gerade schon gesagt habe: Krimis, wie bei Melanie Raabe, oder heimatlich-humoristische Sachen, wie bei Frank Goosen. Das werden dann einfach Textarten und Sparten sein, die nebeneinander existieren. So wäre meine Vermutung. 

Vielleicht noch eine persönliche Frage: Hast du unter den vielen Einträgen auf eurer Literaturkarte eine:n Lieblingsautor:in oder ein Werk, das dir besonders gefällt? 

Also, die Frage ist mir wirklich schon oft gestellt worden und ich habe eigentlich immer versucht, sie anders zu beantworten, damit es nicht langweilig wird. Am Liebsten habe ich häufig das, womit ich mich als letztes lange beschäftigt habe. Ich habe mich in den vergangenen anderthalb Jahren intensiv mit zwei Romanen beschäftigt, die um 2018 erschienen sind und dieses Ende-der-Kohle-Thema verhandelt haben. Die sind mir jetzt natürlich irgendwie ans Herz gewachsen. Das sind die Romane von Anja Kampmann  „Wie hoch die Wasser steigen“ und Martin Becker  „Marschmusik“, die beide Geschichten von Menschen erzählen, die aus dem Ruhrgebiet weggezogen sind oder deren Familie weggezogen ist und die es eben aus ihrer Kindheit, Jugend oder aus Erzählungen kennen und dann in dieses Ruhrgebiet um 2018 zurückkommen und die Gegenwart mit der Vergangenheit abgleichen: Was hat sich hier getan? Was ist überhaupt noch da? Das finde ich in der aktuellen Zeit einfach spannend zu lesen und sich selber mal Gedanken zu machen, wie es vor der eigenen Haustür aussieht. Wo finde ich noch ein Fördergerüst? Wie hat es hier wahrscheinlich früher mal ausgesehen? Man kann sich ja auch online auf diversen Websites angucken, wie viele Zechen es mal gegeben hat und was davon heute noch sichtbar und übrig ist.

Dankeschön, das kann vielleicht jeder als Leseempfehlung mitnehmen, der sich dafür interessiert. Kannst du uns noch etwas über das Buch erzählen, das ihr im Rahmen des Projektes Literaturkarte.Ruhr geschrieben habt? 

Ich glaube, wir haben es „Freizeitführer“ genannt (Anmerkung der Redaktion: Der Titel ist „Literarische Orte im Ruhrgebiet: Wegweiser zu Schauplätzen der Literatur“). Wir haben uns um die 30 Orte von unserer Karte ausgesucht, die wir für besonders sehenswert hielten und haben einfach im Stil eines Reiseführers die Orte und die Literatur, die zu den Orten gehört, vorgestellt. Das Buch ist Anfang 2019 erschienen und immer noch erhältlich. Es handelt sich hierbei nicht um ein wissenschaftliches Werk, sondern richtet sich an jeden, der im Ruhrgebiet gern unterwegs ist, ob mit dem Fahrrad oder auch mal zu Fuß. Man kann sich Orte raussuchen, die beieinander liegen und sich die dann angucken. 

Das macht es dann vielleicht auch für eine ganz andere Zielgruppe noch mal interessant.

Genau. Das war ja auch, was wir irgendwie ein bisschen erreichen wollten, dass man jedem mal zeigen kann, was es hier so alles an Literatur gibt. Wir haben uns auch bemüht, verschiedene Genres unterzubringen. Wir haben Lyrik drin, wir haben eine Graphic Novel drin und wir haben versucht, eine Mischung zu finden aus Orten, die besonders sehenswert sind und Texten, die besonders lesenswert sind.

Vielen Dank für das Interview, Philip!

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(Literarische Orte im Ruhrgebiet.
Wegweiser zu Schauplätzen der Literatur)

Interview: Lena Bexte

Transkription: Lea Risse

Foto: Philip Behrendt