Christina Reinhardt

"Es war ein unglaublich großes Glück für mich, dass ich an meiner Ruhr-Uni Kanzlerin werden durfte."

Christina Reinhardt wurde 1968 in Leinfelden in Baden-Württemberg geboren. An der Ruhr-Universität studierte sie Geographie, Soziologie und Raumplanung. Schon während ihres Studiums engagierte sie sich in der Hochschulpolitik, bevor sie in die Verwaltung wechselte , wo sie sich vor allem mit der Personalentwicklung beschäftigte. Seit 2015 ist Christina Kanzlerin der RUB.

Sie kommen ursprünglich nicht aus Bochum, sondern aus Leinfelden-Echterdingen in Baden-Württemberg. Wie sind Sie denn damals nach Bochum gekommen?

Ich bin der Liebe wegen nach Bochum gekommen. In Leinfelden war ich oft im Jugendhaus. Dort habe ich einen jungen Mann kennengelernt, der in Bochum Mathematik studiert hat. Damals wusste ich bereits, dass ich Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften studieren und deshalb eigentlich nach Berlin wollte. Allerdings wurde dann in Bochum 1989 dieser Studiengang neu aufgesetzt. In Kombination mit dem anderen Grund hat es mich deshalb dann ins Ruhrgebiet verschlagen.

Eine schöne Geschichte. Sie haben dann auch an der Ruhr-Universität studiert. Wie war das damals für Sie?

Für mich war es super, weil Leinfelden so ein Nest, eine Kleinstadt in der Peripherie von Stuttgart ist. Dort war es sehr dörflich und meine Mutter war zu allem Unglück auch noch Grund- und Hauptschullehrerin in derselben Kleinstadt. Dadurch stand man immer unter Beobachtung und ich sehnte mich nach einem großstädtischen, toleranteren Umfeld. Ins Ruhrgebiet zu gehen, war daher für mich ein Befreiungsschlag, weil es sich völlig davon unterschieden hat, wie ich aufgewachsen bin, und mir hat das sofort gut gefallen. Ich fand die Leute irgendwie offener, toleranter. Man guckte nicht genau, was welcher Nachbar machte,  musste nicht immer Kehrwoche haben und was es sonst noch an schwäbischen Traditionen gab. Deswegen hat es mir sofort gefallen. Außerdem ist die Ruhr-Universität auch einfach ein Statement. Wenn man aus einer beschaulichen süddeutschen Kleinstadt stammt und dann an die monumentale Ruhr-Universität kommt, ist das sehr beeindruckend. Ich hatte auch mitbekommen, dass die Uni als hässlich verschrien ist. Ich fand sie allerdings nicht hässlich, für mich hatte sie eine hohe Anziehungskraft. Dadurch dass die Architektur so monumental war, man sich am Anfang ständig verlief, dass es auch so heruntergekommen war und nicht so schmuck, war es gerade faszinierend. Und diese Faszination hält bei mir bis heute an.

Sie sind dann ja mehr oder weniger an der Uni geblieben, haben sich viel engagiert in der Personalentwicklung und auch in vielen anderen Bereichen. Und jetzt sind Sie Kanzlerin an der RUB. Wie ist es dazu genau gekommen?

Ja, also wie ich Kanzlerin geworden bin, das frage ich mich selbst manchmal. Ich hatte nach meinem Studium keinen Masterplan, sondern es ist eher eine Aneinanderreihung von Möglichkeiten gewesen, die sich da aufgetan haben. Was ich dazu beigetragen habe, ist, dass ich immer beherzt solche Möglichkeiten angenommen habe, auch wenn sie vielleicht auf den ersten Blick ein bisschen ungewöhnlich oder auch sehr groß erschienen. So ist das auch mit dem Kanzleramt gewesen. Bevor ich 2015 Kanzlerin an der Ruhr-Universität geworden bin, war ich Kanzlerin an der Fachhochschule in Bochum.  Und das ist so gekommen, dass ich an der Ruhr-Uni in der Personalentwicklung gewesen bin, dort auch zufrieden war und dabei war, etwa Neues aufzubauen.

Durch einen Zufall habe ich mir Stellenanzeigen angesehen und da war eine Stelle in der Zeitung ausgeschrieben, deren Anforderungsprofil klang interessant, aber da sie von einer Personalagentur geschaltet worden war, war nicht sofort ersichtlich, um was für eine Stelle es sich genau handelte. Aber beim Lesen habe mir gedacht: Das kann ich alles. Vielleicht war meine Selbstwahrnehmung etwas übertrieben, aber die Ausschreibung hat mich angesprochen. Dann habe ich also bei der angegebenen Nummer angerufen und habe gesagt: Sie haben da so eine Stelle geschaltet. Ich kann das alles, was da steht. Was ist das denn für eine Stelle? Und dann sagte die Frau am anderen Ende: Ja, das ist die Kanzlerstelle an der Hochschule Bochum. Das hat mich dann erst einmal so eingeschüchtert, dass ich aufgelegt habe. Und dann dachte ich mir als alte Feministin: Was war das denn jetzt wieder für ein typisches Frauending? Warum lass ich mich von einem hohen Status so einschüchtern? Und ich dachte mir: Das passiert dir jetzt aber nicht! Du hast ganz objektiv zu den Anforderungen gesagt: Das kannst du! Dann lass dich mal nicht abschrecken. Und dann habe ich meinen Hut in den Ring geworfen und wurde tatsächlich ausgewählt.

Danach war ich sieben Jahre Kanzlerin an der Hochschule in Bochum. Ich musste wirklich viel lernen am Anfang, weil ich mir die ganzen Themen rund um Finanzen und Bau neu aneignen musste, die ja einen großen Teil der Arbeit einer Kanzlerin ausmachen. Da habe ich eine super steile Lernkurve gehabt, aber das hat mir echt Spaß gemacht. Als sich dann die Möglichkeit auftat, mich an der Ruhr-Universität auf dieselbe Stelle zu bewerben, habe ich das gemacht – an der Uni, die ganz im Sinne des Projekts Heimat meine Heimat-Uni ist und der ich sehr verbunden war und bin. Das war wirklich ein unglaublich großes Glück für mich, dass ich an meiner Ruhr-Uni Kanzlerin werden durfte. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen.

Vielleicht können Sie uns einen kurzen Überblick über Ihre Aufgaben als Kanzlerin geben und uns verraten, welche Themen und Schwerpunkte Ihnen bei Ihrer Arbeit besonders wichtig sind. 

Erstmal muss man sich ja vor Augen führen, dass man als Kanzlerin eine Doppelrolle hat: Ich bin auf der einen Seite Mitglied des Rektorats, also der Hochschulleitung, und habe da bestimmte Zuständigkeiten, nämlich Finanzen, Personal, Bauen, Recht, all diese Themen. Und gleichzeitig bin ich Leiterin der  Universitätsverwaltung. Als Mitglied des Rektorats arbeite ich eben aus meinem Ressort heraus an ganz vielen strategischen Themen mit, z.B. : Wir machen einen Hochschulentwicklungsplan, wir geben neue Professuren frei, wir entwickeln den Campus weiter, wir entwickeln Strategien für Forschung, für Lehre, für Transfer, für Weiterbildung, für all das. An all diesen Stellen diskutiere ich mit und bringe meine Erfahrung, meine Expertise, meine Perspektive ein. Auf der anderen Seite versuche ich all diese Vorhaben und Aufgaben der Universität mit der Verwaltung zusammen so zu unterstützen, dass sie erfolgreich umgesetzt werden. Und das alles zusammengenommen ist eben eine ziemlich anspruchsvolle Führungsaufgabe, weil allein die Verwaltung mit acht Dezernaten ja ziemlich groß ist. Und mit den Dezernenten und den Dezernentinnen versuchen wir die Verwaltung so aufzustellen, dass die Studierenden, die Lehrenden, die Forschenden ihre Aufgaben so gut wie möglich bewältigen können. Woraus besteht also mein Alltag? Aus Reden, aus Besprechungen, aus Gremiensitzungen, aus bilateralen Gesprächen mit anderen Führungskräften, mit Dekaninnen und Dekanen. Ich kümmere mich um Berufungsverfahren und Berufungsverhandlungen mit den neu eingestellten Professoren und Professorinnen – das ist super abwechslungsreich. Und deswegen finde ich es auch so spannend: Weil man als Kanzlerin wirklich mit allen Themen, die es auf dem Campus gibt, in Kontakt kommt. Meine Schwerpunkte sind zum einen die finanzielle Situation der Ruhr-Universität: Wie bekommen wir eine vernünftige, gerechte Mittelverteilung hin? Und das andere große Thema ist die Digitalisierung.

Sicherlich zwei sehr wichtige Themen. Vielleicht können wir uns jetzt der Ruhr-Universität im Allgemeinen zuwenden. Was glauben Sie, was macht die Ruhr-Universität im Vergleich zu anderen Universitäten besonders? Wodurch zeichnet sie sich aus?

Die Ruhr-Universität ist sehr stark geprägt durch ihre Gründung, durch ihre Geschichte. Die Geschichte der Ruhr-Universität ist ja insofern außergewöhnlich, dass es ja die erste Neugründung einer Universität in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg war. Im Landtag gab es damals ein paar extrem visionäre, mutige Leute, die gesagt haben: Wir wollen in diesem Ruhrgebiet eine Universität gründen. Und wenn man sich die Protokolle aus dem Landtag damals durchguckt, dann sieht man, wie umstritten das war. Wie viele gedacht haben: Was wollt ihr machen? Dort? Für 16.000 Studierende wollt ihr da eine Uni gründen? Seid ihr wahnsinnig? Wer soll denn da studieren? Die Arbeiterkinder etwa? Ein Teil des Parlaments hielt das für völlig absurd. Aber es gab eine kleine Gruppe aufrechter Menschen, die sagte: Wir wollen Bildung und Bildungsaufstieg in diese Region bringen. Als Nächstes stritt man sich um den Standort. Bochum hat sich dann nach und nach herauskristallisiert. Wenn diejenigen, die das damals beschlossen haben und die heute sicherlich zum größten Teil nicht mehr leben, wüssten, wie sehr dieses Konzept aufgegangen ist! Dass die Universität mitten in dieser Region nicht nur diese 16.000 Studierenden angelockt hat, sondern seit Jahren über 40.000 Studierende hat und damit die fünftgrößte Universität in Deutschland ist! Ich bin überzeugt, dass nichts so sehr den Strukturwandel im Ruhrgebiet vorangetrieben hat wie die Universitäten. Die Ruhr- Universität hat so viele Bildungsaufstiegskarrieren befördert und das hat ganze Generationen und die Region völlig verändert. 

Diese Ideen, in der Region den Bildungsaufstieg zu ermöglichen und das auch mit einem entsprechenden Konzept zu tun, das sich bis in die Architektur fortsetzt – flache Hierarchien, die sich in modernen Formen ausdrücke. Nicht so diese Ordinarius-Hierarchie, die Sie in den alten Universitäten wiederfinden, sondern eine moderne Formuniversität, die eine Verantwortung für die Region übernimmt. Das war damals völlig neu. Erst viel später ist dann der Anspruch dazugekommen, auch in der Forschung international ganz oben mitspielen zu wollen. Heute, würde ich sagen, schaffen wir das. An der Ruhr-Universität gelingt es wie an kaum einer anderen Universität, dieses Spannungsfeld auszubalancieren: Einerseits sind wir verwurzelt und verantwortlich für die Region, andererseits gleichzeitig so ambitioniert, dass wir den Anspruch haben, zu den zehn, fünfzehn besten Universitäten Deutschlands zu gehören. Das vereinen wir auf dem Campus.

Was glaube Sie als Kanzlerin, wie die Beziehung der Studierenden und der Lehrenden zur RUB aussieht? Inwieweit kann so eine Universität auch ein Heimatort für Menschen sein, die hier aufgewachsen oder auch hierher gezogen sind?

Das ist sicher auf ganz unterschiedliche Weise der Fall.  Ich fange mal bei den Lehrenden an. Unsere Professorinnen und Professoren, insbesondere die sehr erfolgreichen, bekommen auch immer wieder wirklich attraktive Rufe von anderen Universitäten. Ich habe dann die spannende Aufgabe, Bleibeverhandlungen mit ihnen zu führen und diese Bleibeverhandlungen gehen zu einem unglaublich hohen Prozentsatz positiv für die Ruhr-Universität aus. Die Geschichten, die da geschrieben werden, sind irgendwie auch toll, weil das durchaus nicht immer Leute sind, die aus dem Ruhrgebiet stammen, sondern die stammen Gott weiß woher und haben irgendwie auch ihr Herz an diese Uni verloren. Die sagen, dass das Umfeld hier so toll ist, das Miteinander ist gut, es herrscht ein guter Spirit, hier sind viele ambitionierte Leute, wir haben tolle Studierende. Für viele ist die Ruhr-Uni so etwas wie ihre Heimat, ihre akademische, ihre intellektuelle Heimat geworden, und deswegen entscheiden sich zwischen 80 und 90 Prozent von denen, mit denen wir Bleibeverhandlungen führen, an der Ruhr- Universität zu bleiben. Wir sind wirklich stolz, dass sich so viele, mit denen wir Bleibeverhandlungen führen, weil sie die Chance hätten, an eine andere tolle Uni zu wechseln, am Ende erneut für die Ruhr-Universität entscheiden, weil sie, so habe ich das Gefühl, der Ruhr-Universität in ganz besonderer Weise verbunden sind.

Bei den Studierenden ist es ganz unterschiedlich. Da gibt es die, die schon als Kind einen Spaziergang im Botanischen Garten gemacht haben und für die es immer klar war, dass sie dann hier studieren, und die deswegen eine besondere Verbundenheit empfinden. Aber es gibt auch ganz viele, die – so wie ich damals – von außerhalb herkommen, und sich dann in Bochum so heimisch fühlen, dass sie gerne hier bleiben.

Inwieweit ist die Uni für Sie ein Stück Heimat und wie würden Sie Heimat allgemein für sich definieren?

Also für mich ist die Ruhr-Universität auf jeden Fall ein Stück Heimat. Woran merke ich das? Das merke ich daran, dass ich doch auch eine recht starke emotionale Beziehung zu diesem Laden habe. Ich fiebere mit, wenn es darum geht, in einem Wettbewerb erfolgreich zu sein; ich bin stolz darauf, wenn uns Sachen gelingen, bin traurig, wenn uns etwas nicht gelingt. Wenn ich etwas länger im Sommerurlaub war und dann am ersten Tag nach dem Urlaub wieder mit dem Fahrrad auf dem Campus ankomme und das erste Mal wieder ins Gebäude gehe, dann freue ich mich immer sehr. Das liegt natürlich nicht an dem reinen Beton, den ich schon einmal erwähnt habe, sondern es liegt in erster Linie an dem Miteinander und an den tollen Leuten, mit denen ich hier zusammenarbeite. Und deswegen glaube ich, dass Heimat für mich in erster Linie ein soziales Eingebundensein ist. Das sage ich als Geographin . Ich glaube, für mich ist Heimat eher etwas Soziales als etwas Räumliches.

Durch die Corona-Pandemie fallen gerade viele soziale Aspekte des Universitätslebens weg. Wie hat sich Ihre Beziehung oder allgemein die Beziehung der Menschen an der Ruhr-Universität zur Uni verändert?

Ganz unterschiedlich. Also ich glaube, dass stabile Beziehungen zwischen Menschen und der Ruhr-Universität auch ein Jahr oder anderthalb Jahre ohne  persönlichen Kontakt aushalten. Ich bekomme jedoch mit, dass der große Teil derer, die im Homeoffice arbeiten,  sehr leidet an den fehlenden sozialen Kontakten. Ich leide auch darunter. Ich bin auch allein, wenn ich so über den Campus spaziere – ich bin ja zweimal in der Woche im Büro und ansonsten auch im Homeoffice. Ich finde das zum Heulen, dass das so leer ist und ich glaube, dass die, die in den letzten zwei, drei Semestern an die RUB gekommen sind, bestimmt besondere Schwierigkeiten haben, sich mit dieser Institution zu verbinden. Weil all das, was die Ruhr-Universität ausmacht, wegfällt. Also zusammen vor dem Q-West liegen, in der Mensa zusammen zum Mittagessen gehen, Partys, WG-Partys. Das fällt alles weg und das ist echt hart. Und das ist, neben dem, was Corona als Krankheit alles anrichtet, für mich auch das eigentliche Drama an Corona. Dass so die jüngeren Menschen zwischen 15 und 25 wirklich einen Teil einer ganz wichtigen Zeit verlieren. Das ist bestimmt schwer nachzuholen.

Wir hoffen natürlich, dass sich die Situation dann schnell wieder ändert. Eine ganz allgemeine Frage vielleicht noch zum Abschluss: Sie sind ja auch bei Univercity aktiv. Das ist ein Zusammenschluss verschiedener Bochumer Hochschulen. Was glauben Sie, wie wird die Stadt Bochum durch die Anwesenheit der Ruhr-Universität und der vielen übrigen Hochschulen geprägt?

Wie ich schon sagte:  Die Idee, im Ruhrgebiet Hochschulen aufzubauen, die in den 70er Jahren  noch einmal zu vielen Fachhochschulgründungen geführt hat, war der Motor für den Strukturwandel. Ich bin sicher, dass die Hochschulen die Stadt in den letzten 20 oder 30 Jahren massiv verändert und positiv beeinflusst haben. Worüber ich sehr glücklich bin, ist, dass auch die Stadt das in den letzten 10 oder 15 Jahren zunehmend erkannt hat und wir deswegen in diesem Univercity-Verbund mit der Stadt wirklich gut zusammenarbeiten. Und ganz konkret: Wenn ich in die Innenstadt gehe, dann sehe ich, dass ich in einer Stadt lebe, wo es sieben Hochschulen und über 50 000 Studierende gibt. Das sieht man an einer modernen Innenstadt, wo es mittlerweile viele vegane Imbisse gibt,  Cappuccino-Bars und so weiter und wo ein bunt gemischtes Völkchen unterwegs ist. Es gibt Ort, wie zum Beispiel das Schauspielhaus, wo draußen immer etwas los ist, wo sich  junge Leute treffen – und das macht durchaus die Lebensqualität in unserer Stadt aus. 

Die Universitäten haben also durchaus einen großen Einfluss auf den Heimatort Bochum. Vielen Dank für das Gespräch, Frau Reinhardt.

Interview: Lena Bexte
Transkription: Marie N´gouan
Foto: Ruhr-Uni Bochum