"Für mich ist Bochum meine Wahlheimat, der Ort, an dem ich mir ausgesucht habe, mein Leben zu verbringen"
Sebastian 23 ist 1979 in Duisburg geboren. Er studierte Philosophie in Freiburg und machte sich als Poetry-Slammer, Buchautor und Comedian einen Namen. Heute schreibt er nicht nur selber Texte, sondern organisiert auch Slam-Veranstaltungen zusammen mit der Künstlergruppe WortLautRuhr.
Wenn du am Bochum denkst, was kommt dir dann spontan in den Sinn? Was glaubst du, was macht Bochum als Stadt aus?
Wenn ich an Bochum denke, dann fällt mir natürlich als Erstes ein, dass das meine Wahlheimat ist und dass ich sehr gerne hier wohne. Gelegentlich muss ich mich dafür rechtfertigen, weil ich überall wohnen könnte, da mein Beruf lokal sehr flexibel ist und ich eigentlich normalerweise durch Deutschland reise und Auftritte und Lesungen und Shows mache. Aber ich habe mich sehr bewusst für Bochum entschieden, weil ich die Stadt in vielerlei Hinsicht sehr gut zum Leben finde.
Du kommst ja auch gebürtig aus dem Ruhrgebiet.
Ja, ich wurde in Duisburg geboren, aber ich wohne jetzt seit 16 Jahren hier in Bochum. Das ist ja auch schon fast mein halbes Leben.
Als Poetry-Slammer beschäftigst du dich ja auch in einigen deiner Texte mit Bochum und dem Ruhrgebiet.
Ja, genau.
Bochum kommt dabei nicht immer so gut weg. Du erläuterst zum Beispiel in mehreren Texten die Bedeutung des türkischen Wortes bokum oder auch bochum.
In der Tat heißt bokum oder eben bochum auf Türkisch „meine Scheiße“. Ich wusste das sehr lange nicht, also ich habe hier schon etwa 10 Jahre gewohnt, bevor mir das ein türkischer Freund erzählte. Die türkischsprachige Community Bochums geht mit dieser Information auch nicht hausieren – das ist den Leuten wahrscheinlich auch ein bisschen unangenehm.
Und ansonsten ist es so, dass ich natürlich, wenn ich einen Witz über Bochum mache, im besten Wissen tue, dass man sich am Besten über Sachen lustig machen kann, die man gerne mag, ansonsten kippt es schnell in Gehässigkeit und das ist eine eher unsympathische Charaktereigenschaft. Wenn man aber eine liebevolle Stichelei vom Stapel lässt, ist das eigentlich ein Zeichen des Wohlwollens. Nun ist das Genre der liebevollen Stichelei hier in Ruhrgebiet ein bisschen anders ausgelegt als in anderen Landstrichen, da geht es schon mal etwas herb zur Sache, und insofern kann es schon mal sein, dass ich auch einen herberen Witz über Bochum mache, der aber keinesfalls in Vergessenheit geraten lassen darf, dass ich ein großer Fan dieser Stadt bin.
Was genau magst du an Bochum besonders?
Ich mag an Bochum, dass es hier ein großes kulturelles Angebot gibt, von einem sehr guten Hochkultur-Angebot im Schauspielhaus oder im Musikforum bis hin zu schönen kleinen Clubs und Kneipen und der kleinen Off-Theaterszene, die hier ganz lebendig ist. Auf der anderen Seite ist Bochum eine Stadt, in der man sehr gut ausgehen kann, es hat mit dem Bermudadreieck das einzige, richtige Ausgehviertel des Ruhrgebiets. Und dann ist es aber auch noch eine Stadt, die nicht ganz so aufgeblasen groß ist wie die drei anderen Ruhrgebietsstädte, die größer sind als Bochum – Duisburg, Essen, Dortmund – da verläuft man sich manchmal so ein bisschen. In Bochum weiß man, wo die Stadt anfängt und wo sie aufhört und wo die Mitte ist, man kann zum Beispiel Richtung Süden sehr gut auch die Stadt verlassen und steht dann im Ruhrtal mitten im Grünen oder im Weitmarer Holz. Es gibt sehr, sehr gute Wege und sehr viel Grün auch in der Stadt. Das mag ich an Bochum.
Wie würdest du Heimat für dich definieren? Würdest du Bochum auch als deine Heimat bezeichnen?
Ich glaube, Heimat ist so ein Begriff, der für jeden Menschen etwas anderes bedeutet, und man tut sich da keinen großen Gefallen mit, das zu definieren. Schon das Wort Brot bedeutet ja für jeden Menschen etwas anderes. Wenn ich das an einem einfachen Beispiel illustrieren darf: Bei abstrakten Worten wie Heimat oder Liebe kommt man ganz schnell an Grenzen, wo man aneinander vorbeiredet, weil Heimat einerseits der Ort sein kann, an dem man sich jetzt gerade aufhält. Es gibt Leute, die sagen würden: „Da, wo ich wohne, ist meine Heimat, auch, wenn ich da erst vor zehn Minuten hingezogen bin.“ Es gibt aber auch Leute, die sagen würden: „Die Stadt, in der wohne, ist meine Heimat oder das Bundesland oder das Land oder der Kontinent ist meine Heimat.“ Andere Leute sagen: „Da, wo ich geboren bin, da, auf diesem Punkt, da genau ist meine Heimat.“
Für mich ist Bochum meine Wahlheimat. Das ist ein Ort, an dem ich mir ausgesucht habe, mein Leben zu verbringen, und ob das dauerhaft so bleibt, weiß ich noch nicht, aber im Augenblick verstehen wir uns sehr gut miteinander, die Stadt und ich. Vielleicht bleibt es auch nur eine Lebensabschnitts-Heimat, aber ich fühle mich hier sehr wohl und habe gerade nicht das Bedürfnis, irgendwo anders meinen Lebensmittelpunkt hinzuverschieben. Und Ich glaube, das beschreibt ganz gut, was ich unter Heimat verstehe.
Schön, dass du dich so wohl in Bochum fühlst. Vielleicht können wir jetzt ein bisschen über deine Texte sprechen. Du schreibst ja Poetry-Slams seit 2002, seit du 23 bist – daher kommt ja auch dein Name – und dem bist du ja bis heute treu geblieben. Wie bist du damals dazu gekommen?
Ich habe damals bei einem Poetry-Slam in Freiburg, wo ich studiert habe, einfach mal vorbeigeschaut, weil ich als Jugendlicher schon angefangen habe zu schreiben, eigentlich sogar als Kind, aber nie außerhalb der Schülerzeitung etwas veröffentlicht habe und nicht wusste, wohin mit meinen Texten. Und dann habe ich während des Studiums von diesem Format gehört, bei dem jede und jeder auf die Bühne darf, der einen selbstgeschriebenen Text mitgebracht hat.
Vielleicht nochmal kurz zur Erläuterung für alle, die jetzt damit nichts anfangen können: Was genau ist Poetry-Slam?
Das ist ein Vortrags-Wettbewerb, bei dem Leute mit selbstgeschriebenen Texten – das ist die Voraussetzung, es müssen eigene Texte sein – auf die Bühne kommen und in der Regel so 5-7 Minuten Zeit haben, ihren Text vorzulesen oder vorzutragen. Am Ende stimmt das Publikum für seinen Favourit ab und entscheidet so, wer den Poetry-Slam gewinnt und einen symbolischen Preis mit nach Hause nehmen darf. Es ist ein locker gehaltenes, in Richtung Unterhaltung tendierendes Showformat mit literarischem Inhalt. Und dort bin ich mit meinen Texten auf die Bühne gegangen, anfangs sehr erfolglos, aber mit großem Spaß an der Sache und bin dabei geblieben. Poetry Slam bringt außerdem den schönen Aspekt mit, dass man auf der Bühne seine Texte noch gestalten kann, und es so eine Mischung aus Theaterperformance und Literatur ist, was man da am Mikrofon macht. Daran habe ich bis heute großen Spaß.
Wie sammelst du denn immer wieder die vielen Ideen für deine mittlerweile sehr große Textsammlung und gibt es Themen, die dir dabei besonders wichtig sind?
Ich habe insbesondere jetzt in den letzten 13 Monaten, die weite Teile der Menschheit bei sich zu Hause verbracht haben, nochmal verstärkt festgestellt, dass ich meine Ideen von außen hole. Nicht indem ich durch die Welt laufe und dann sehe ich einen Hund mit einem grünen Hut und denke: „Jetzt könnte ich mal eine Kurzgeschichte über einen Hund grünem Hut schreiben“, aber ich laufe rum und sammle Eindrücke und höre Geschichten, sehe Orte und Dinge und das sammelt sich alles in meinem Kopf. Und wenn viel Input reinkommt und ich weit rumkomme und viel erlebe, dann kommt auch viel dabei heraus, dann hab ich auch viele Ideen. Auf irgendeine Art und Weise wird dann alles, was ich so in der Welt erfahre, durch den Kanal der Kreativität gejagt und dann zu Geschichten.
Es gibt keine festgelegte inhaltliche Richtung, also ich schreibe jetzt zum Beispiel nicht nur politische Texte oder Texte über die Natur oder so. Das einzige, von dem ich sagen würde, dass man es oft wiederfindet, sind – neben dem Humor – Relikte aus meiner Studienzeit. Ich bin ja studierter Philosoph und Historiker und, wenn man darauf sein Augenmerk richtet, findet man das in vielen Texten wieder.
Mittlerweile schreibt du ja nicht nur selber Poetry-Slams, sondern moderierst und organisierst auch Veranstaltungen, bei denen andere Künstlerinnen und Künstler auftreten, zum Beispiel im Rahmen der Organisation Wortlaut Ruhr. Wie genau sieht deine Arbeit dort aus?
Ich hab ja in der Frühzeit des Poetry-Slams angefangen. Tatsächlich gibt es ja Poetry Slam auch erst seit etwas über 25 Jahren in Deutschland. Das heißt, mit meinem 20 Dienstjahren, die ich da mittlerweile gesammelt habe, bin ich nicht ganz von Anfang an dabei gewesen, aber schon, als die Szene noch sehr klein war. Am Anfang hat man da einfach irgendwo eine Bierkiste umgedreht und jemand hat sich draufgestellt und einen Text vorgetragen. Viel mehr ist da organisatorisch nicht passiert. Aber die Szene ist gewachsen im Laufe der Jahre und damit auch die Veranstaltungen und die Zuschauer:innen sind mehr geworden, aber auch die Künstler:innen, die man auf der Bühne sieht, und das setzt natürlich voraus, dass man sich auch als Veranstaltende professionalisiert.
Deswegen habe ich mich dann im Jahr 2012 mit einem Freund zusammengetan, der Veranstaltungskaufmann ist, und dann haben wir eine kleine Agentur zusammen gegründet, die seitdem überall im Ruhrgebiet Poetry-Slams veranstaltet. Im Augenblick natürlich eher in digitaler Form, aber wir sind sehr aktiv mit Wortlaut Ruhr, und haben mittlerweile tatsächlich auch angefangen, Menschen auszubilden. Heute sind wir ein kleiner Betrieb mit sechs Mitarbeitenden.
Wenn du jetzt von jemandem angesprochen wirst, der sich dafür interessiert, mitzumachen, was würdest du dieser Person dann raten? Wo hat man vielleicht eine Anlaufstelle?
Bei uns natürlich. Also man kann sich sehr gerne an uns wenden. Wir haben uns von Anfang an als eine Agentur verstanden, die Leuten den Weg auf die Bühne ermöglichen und auch den Nachwuchs fördern möchte. Neben den ganzen Abendveranstaltungen, die wir durchführen, gehören auch Workshops und Fortbildungen zu unserem Programm und wir haben eine große Jugendsparte. Nirgendwo in Deutschland gibt es glaub ich so viel große Jugend-Poetry-Slams und Workshops, wie wir das hier im Ruhrgebiet zentral organisieren können. Und das heißt, man kann sich ganz einfach an uns wenden, eine Mail schreiben, dass man auftreten möchte, und wir sind da tatsächlich offen für alle Menschen.
Und auch wenn ich gerade den Jugendbereich hervorgehoben habe; man muss natürlich gar nicht jung sein. Wir haben auch Slammerinnen und Slammer, die über 80 sind und damit gerade erst anfangen. Das geht selbstverständlich und das ist auch, finde ich, einer der schönen Aspekte. Es ist eben offen für jeden, es ist keine Elitenkultur – auch wenn ich gegen die nichts habe. Ich finde es super, was in den Konzerthäusern dieser Welt passiert und was Leute an ihren Instrumenten leisten können, wenn sie seit dem Alter von fünf Jahren täglich acht Stunden lang üben. Beim Poetry-Slam ist die Eingangsschwelle etwas niedriger, da kann eigentlich jede und jeder auf die Bühne und sagen, was er oder sie möchte.
Abschließend noch die Frage: Wie wichtig ist Poetry-Slam für die Stadt Bochum oder für das Ruhrgebiet im Gesamten? Wie beeinflusst diese Szene die Stadt oder umgekehrt?
Das ist eine sehr gute Frage, die man, glaube ich, nicht ganz so einfach beantworten kann, ohne Gefahr zu laufen, ins Spekulative abzudriften. Ich glaube aber sagen zu können, dass Bochum ein – ja, man kann das Wort Hotspot nicht mehr benutzen, ohne dass es nach einer Pandemie klingt, früher war das was Gutes – eine Anlaufstelle ist, wo mittlerweile auch ganz viele Slammerinnen und Slammer aus ganz Deutschland herziehen, weil die Szene hier so lebendig ist. Hier leben sehr viele Leute, die das als Beruf machen oder als Hobby haben. Es gibt ganz viele Bühnen, ganz viele Formate und ganz viele kreative Köpfe aus der Szene, die sich mittlerweile hier angesiedelt haben und aus meiner Perspektive die Stadt auch durchaus mitprägen.
Wenn man jetzt vielleicht eher jemand ist, der die Poetry-Slam-Szene belächelt, weil man denkt, das sei keine richtige Literatur oder so, dann sieht man das vielleicht ganz anders, und legt eher Wert darauf, dass hier zum Beispiel mit dem Anneliese Brost Forum in Bochum seit einigen Jahren ein ganz neues Konzerthaus steht und der Stadt ein kulturelles Gesicht verleiht. Ich weiß es nicht, ich bin da ganz offen, aber Ich freue mich, Teil dieser lebendigen Poetry-Slam-Szene hier zu sein.
Das ist ja dann vielleicht auch noch mal etwas, das die Stadt ausmacht, dass man ein vielfältiges kulturelles Angebot hat, ob das jetzt traditionellere Institutionen sind wie das Schauspielhaus oder auch der Poetry-Slam.
Und wir schlagen ja auch die Brücke. Auch am Schauspielhaus organisieren wir schon seit vielen Jahren regelmäßig Veranstaltungen. Das ist eben auch eine Sache, die mir an Bochum gut gefällt. Man hat früher gesagt: „Hier trifft sich der Professor mit dem Arbeiter an der Currywurstbude“. Das heißt, wir haben in manchen Gegenden vielleicht stärker ausgeprägte Kultur von so einem Ständedenken, die gibt es hier gar nicht so sehr. Hier begegnet man sich schnell auf Augenhöhe und hier gibt es eben auch Formate wie den Poetry-Slam, der auf der Schauspielhaus-Bühne gemeinsam mit Schauspielerinnen und Schauspielern des Ensembles stattfindet.
Vielen Dank für das Interview!
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Interview: Lena Bexte
Transkription: Leines Baumgardt
Foto: Henriette Becht